Der Personzentrierte Ansatz
nach Carl R. Rogers
© Brigitte Moshammer- Peter
Philosophische Grundlagen
Anthropologische Basis („Menschenbild", „Natur des Menschen")
Der personzentrierten Psychotherapie liegt eine zutiefst humanistische Haltung zugrunde. Jede Person wird als eigenständiges Individuum betrachtet, das über eine ihm Inne wohnende positive Kraft verfügt, die ihrer Natur nach konstruktiv, sozial und entwicklungsorientiert ist. Diese Kraft wird „Aktualisierungstendenz" genannt.
Selbstbeachtung (self-regard) wird als grundlegendes menschliches Bedürfnis betrachtet.
Personen sind bestrebt nach Wahrheit zu suchen und stehen ganzheitlich und vollständig in einem Wachstumsprozess.
Rogers in einem Gespräch mit Tillich am 7. März 1965 über die menschliche Natur und ihre Merkmale: „...Eines davon ist, wie ich meine, die Tatsache, dass er unheilbar sozial ist; ich glaube, er hat ein tiefes Bedürfnis nach Beziehungen. Dann glaube ich, daß der Mensch, einfach weil er ein Organismus ist, ein gerichtetes Streben hat. Er bewegt sich in die Richtung, sich selbst zu verwirklichen."
Wissenschaftstheoretische Orientierung
Die personzentrierte oder auch klientenzentrierte Psychotherapie wurde von Carl R. Rogers in der Zeit von 1938 bis 1950 entwickelt. In ihrer Ursprungsform wurde sie als „nicht- direktive" Beratung oder Psychotherapie bezeichnet.
Ihre Wurzeln findet die personzentrierte Psychotherapie speziell in der humanistischen Psychologie. Die humanistische Psychologie ist kein geschlossenes System, sondern vielmehr eine Denkart und zeichnet sich vor allem durch großes Interesse am Menschen aus, wobei der Selbstentfaltung viel mehr Gewicht als der Manipulation von anderen gegeben wird.
Quitmann beschreibt die HP als Bewegung, die folgende Strömungen miteinander verbindet:
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Europäische Philosophie (Existenzialphilosophie und Marxismus)
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Östliche Philosophie (Buddhismus, Taoismus, Zen)
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Die Schriften des alten Testaments
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Europäische Psychologie (Psychoanalyse)
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Amerikanische Psychologie (Behaviorismus)
Zu ergänzen wäre diese Aufzählung noch durch die naturwissenschaftlichen und politischen Strömungen.
Persönlichkeitsmodell und Entwicklungstheorie
Rogers über die Entwicklung der Selbsstruktur: „Die allgemeine Tendenz zur Aktualisierung drückt sich auch in der Aktualisierung des Teils der organismischen Erfahrung aus, in dem sich das symbolisiert, was wir Selbst nennen. Wenn das Selbst und die Erfahrung des Organismus verhältnismäßig kongruent sind, dann bleibt die Aktualisierungstendenz ebenfalls verhältnismäßig ungespalten. Wenn aber Selbst und Erfahrung inkongruent sind, dann kann die allgemeine Aktualisierungstendenz des Organismus mit diesem Subsystem, nämlich der Tendenz zur Entfaltung des Selbst, in Widerspruch stehen."
Krankheitslehre
Krankheitsbegriff
Ein Krankheisbegriff als solcher ist in der personzentrierten Psychotherapie nicht existent. Es geht vielmehr um ein Verständnis der leidenden Person. Psychisches Leiden ist dabei als Inkongruenz zu verstehen. Symptome, die dabei entstehen gelten als dringendes Bedürfnis nach empathischen Verständnis.
Gesundheitsbegriff
Rogers (1959): „Wenn Selbsterfahrungen exakt symbolisiert erlebt und in dieser exakt symbolisierten Form in das Selbskonzept integriert werden, dann ist der Zustand der Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung erreicht. Würde dies für alle Selbsterfahrungen gelten, dann wäre das Individuum eine mit sich in völliger Übereinstimmung befindliche, also eine psychisch völlig gesunde Person."
Die hypothetische „fully functioning person" ist vollständig kongruent, also „psychisch gesund".
Der Begriff „fully functioning person" ist gleichbedeutend mit optimaler psychischer Ausgeglichenheit, optimaler psychischer Reife, völliger Kongruenz, völliger Offenheit gegenüber Erfahrungen. Diese Charakteristika sind als Prozessmerkmale zu sehen. Die „fully functioning person" ist also eine sich im Prozess ständig verändernde Person. Ihr Verhalten ist nicht vorhersagbar, aber in jeder Situation anpassungsfähig.
Ätiologiemodell (Annahme zur Entstehung von psychischen Störungen)
Jede Person ist mit der Aktualisierungstendenz ausgestattet und agiert dementsprechend. Aus der Interaktion mit der Umwelt entwickelt sich das Selbst und wird aufgrund zwischenmenschlicher Erfahrungen zum Selbstkonzept. Durch die Entwicklung des Selbst entsteht auch ein Bedürfnis nach positiver Beachtung. Wenn Bedingungen an eine positive Beachtung geknüpft werden, entstehen Bewertungsbedingungen. Stimmen diese Bewertungsbedingungen mit der organismischen Bewertung des Kindes überein, werden Erfahrungen korrekt im Gewahrsein symbolisiert. Erfahrungen, die diesen Bewertungsbedingungen widersprechen, werden nur selektiv wahrgenommen, dem Gewahrsein ganz oder teilweise verweigert. Durch diese selektive Wahrnehmung im Sinne der Bewertungsbedingungen entsteht Inkongruenz zwischen dem Selbst und der Erfahrung.
Weitere zentrale theoretische Konzepte
Die zentrale Annahme der personzentrierten Psychotherapie ist, dass die Person in sich selbst alle Ressourcen dafür hat, sich selbst zu verstehen und ihre Lebens- und Verhaltensweisen konstruktiv zu verändern.
Die Therapie versteht sich als wachstumsfördernd. Im Vordergrund steht der Prozess der Persönlichkeitsveränderung, nicht die Persönlichkeitsstörung. Dabei kann auf eine jedem Individuum inne wohnende Kraft, die Aktualisierungstendenz vertraut werden.
Aktualisierungstendenz
In jedem Organismus (nicht nur im Menschen) existiert eine ausschließlich positiv orientierte Kraft, die jederzeit bestrebt ist, die Möglichkeiten des Individuums optimal zu entfalten und weiter zu entwickeln.
Therapieziele
Als Ziel der personzentrierten Psychotherapie steht das Erreichen, oder vielmehr die Annäherung an einen Zustand, der als „fully functioning" (Rogers 1961) beschrieben wird. Die Person ist fähig Gefühle in ihrer Unmittelbarkeit und Reichhaltigkeit zu erleben. Sie weiß wer sie ist, was sie will und welche Einstellungen sie hat. Sie ist sich selbst gegenüber akzeptierend und hat Vertrauen in ihren eigenen organismischen Prozess. Sie ist kongruent, kann ihr Erleben symbolisieren und kommunizieren.
Praxis (Wege zur Erreichung der Ziele)
Therapietheorie inkl. Beziehungsverständnis und Prozessmodell (spezifische Bedingungen und Faktoren, die gewünschte Effekte bewirken, u.a. auch Methoden, Techniken etc.)
Die Bedingungen
Damit sich konstruktive Persönlichkeitsveränderung ereignet, ist es notwendig, dass die folgenden Bedingungen gegeben sind und über eine gewisse Zeitspanne hinweg andauern:
- Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt.
- Die erste, die wir Klient nennen, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich.
- Die zweite Person, die wir Therapeut nennen werden, ist kongruent oder integriert in der Beziehung.
- Der Therapeut empfindet eine bedingungslose positive Zuwendung dem Klienten gegenüber.
- Der Therapeut empfindet ein empathisches Verstehen des inneren Bezugsrahmens des Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
- Die Kommunikation des empathischen Verstehens und der bedingungslosen positiven Zuwendung des Therapeuten dem Klienten gegenüber wird wenigstens in einem minimalen Ausmaß erreicht.
Keine anderen Bedingungen sind notwendig. Wenn diese sechs Bedingungen gegeben sind und über eine bestimmte Zeitspanne hinweg andauern, ist dies hinreichend. Der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung wird folgen.
Der Prozess
Kennzeichen für den psychotherapeutischen Prozess aus personzentrierter Sicht (Hutterer 1991):
- Offenheit für Erfahrungen: Von Entferntheit des Erlebens zu Unmittelbarkeit
- Vertrauen in den eigenen Organismus
- Entwicklung einer inneren Bewertungsinstanz
- Bereitschaft zur Veränderung
Das Phasenmodell der Psychotherapie (Swildens 1992)
- Motivationsphase (Wunsch nach Hilfe, Bereitschaft zur Therapie)
- Symptomphase
- Problemphase/ Konfliktphase
- Existentielle Phase (z.B. Sinnfrage)
- Abschied
Aufgaben der Psychotherapeut*in
Rogers hat drei wesentliche Einstellungen oder Bedingungen der TherapeutIn für den Erfolg einer Therapie formuliert:
- Die Echtheit oder Kongruenz des Therapeuten
- Das vollständige Akzeptieren oder die bedingungslose positive Wertschätzung des Klienten durch den Therapeuten
- Ein empfindsames und genaues empathisches Verstehen der Gefühle des Klienten und ihrer persönlichen Bedeutung durch den Therapeuten
Dave Mearns und Brian Thorne (1988) haben zusammengefaßt, was einen guten personzentrieten Therapeuten ausmacht (auszugsweise):
- Wenn ein Berater / Therapeut die Basisvariablen (Kongruenz, Empathie, Akzeptanz) in eine therapeutische Beziehung einbringt, wird Wachstum stattfinden.
- Das einzelne Individuum sollte der primäre Bezugspunkt bei jeder Art von Hilfe sein.
- Es ist wichtig das Streben nach Autorität und Kontrolle über andere zurückzuweisen; man sollte versuchen die Macht zu teilen.
Aufgaben der Klient*in
Die erste Aufgabe der Klient_in für einen therapeutischen Prozess ist es, sich in psychologischen Kontakt mit einer zweiten Person (TherapeutIn) zu begeben.
Als zweite der sechs Bedingungen für den therapeutischen Prozess hat Rogers den Zustand der Inkongruenz der KlientIn definiert.
Um eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung zu ermöglichen, muß es der KlientIn wenigstens in einem minimalen Ausmaß möglich sein, die Kommunikation des emphatischen Verstehens und der bedingungslosen positiven Zuwendung wahrzunehmen.
Anwendungsschwerpunkte
Die personzentrierte Psychotherapie kann durch ihre Besonderheit, die Art der Beziehung und Begegnung, sehr vielfältig angewandt werden. Die PP hat sich gleichermaßen mit neurotischen wie auch psychotischen Personen als hilfreich erwiesen. Besondere Bedeutung gilt der Arbeit mit Schizophrenen. Sie hat sich in allen Altersgruppen, vom Kind bis hin zu alten Menschen bewährt. Die Arbeit ist sowohl mit einzelnen Personen als auch in Gruppen möglich, wobei die Encounter- Gruppen besonders zu erwähnen sind.
Persönlicher Kommentar
Auf dem ersten Blick erscheint der personzentriete Ansatz der Psychotherapie nahezu simpel. Durch die Einhaltung der drei Grundbedingungen soll sich eine optimal entfaltete Persönlichkeit entwickeln. Die konsequente Einhaltung dieser Bedingungen und das Entdecken der Persönlichkeit des Gegenübers stellt aber ein wirklich großes Abenteuer dar.
Die Tatsache, dass von der Theorie her wenig Technik angeboten wird, macht die große Freiheit in dieser Therapiemethode. So ist es für jede Therapeut_in möglich, ihren eigenen Stil und ihre eigene Arbeitsweise zu entwickeln. Jeder Klient_in kann neu und auf die ihr entsprechende Art und Weise begegnet werden, was der personzentrieten Haltung zutiefst entspricht. Nicht ein rigides Konzept, sondern die Beziehung zwischen zwei Personen bestimmt die Art der Arbeit. Solange die drei Grundbedingungen eingehalten werden, ist alles möglich.
Ich denke, dass die personzentriete Haltung Basis aller Psychotherapien sein sollte, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ohne diese Bedingungen ein wachstumsfördernder oder auch ein heilsamer Prozess entstehen kann. Dieses bedingungslose Angenommensein aber ermöglicht es, Abwehrverhalten aufzugeben und sich selbst und anderen näher zu kommen.
Verwendete Quellen
- Carl R. Rogers, Peter F. Schmid: Person- zentriert; Mainz 1991
- Kollbrunner J.: Das Buch der humanistischen Psychologie; Eschborn 1987
- Peter Frenzel, Peter F. Schmid, Marietta Winkler (Hrsg.): Handbuch der Personenzentrierten Psychotherapie; Köln 1992
- Carl R. Rogers: Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen; Köln 1987