Sexualität in der Partnerschaft: aus Bilderfluten aufsteigen
Partnerschaft
73 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher haben mindestens einmal pro Woche Sex. Das besagt die bis dato größte Studie zu diesem Thema. Das Problem dabei ist - es ist wahrscheinlich gelogen.
Von Sabine Fisch
Wer lebt schon Sexualität nach der Uhr", fragt der Psychiater und Leiter des Anton Proksch Instituts in Wien, Michael Musalek, und hält fest: „Was die Häufigkeit von Sex anbelangt, sagen die wenigsten Menschen die Wahrheit." Sexualität hat in der westlichen Gesellschaft einen vermeintlich unglaublich wichtigen Status erhalten. „Wer nicht mindestens zweimal die Woche Sex hat, mit dem stimmt doch etwas nicht", gibt Michael Musalek eine häufig geäußerte Meinung wider. Dabei könne es für Sexualität gar keine Normen geben.
„Wir leben in einer übersexualisierten Gesellschaft", weiß auch die Paartherapeutin Brigitte Moshammer-Peter aus Wien: „Sex bekommt damit aber einen Stellenwert, der sehr viele Menschen überfordert." Egal, ob es die Frequenz betrifft, also die Häufigkeit sexueller Begegnungen, oder ob es um verschiedene Spielarten der Sexualität geht - erlaubt ist scheinbar, was gefällt -, „und das ist prinzipiell auch gut so", betont Moshammer-Peter. „Es setzt die Menschen aber auch unter Druck, denn wer das Gefühl bekommt, mindestens einmal täglich in ausgefallenen Stellungen Sexualität haben zu müssen, der wird eine entspannte und gelingende Sexualität kaum noch leben können."
Sehr häufig steht auch der Alltag einem erfüllten Sexualleben diametral entgegen. Die Erwerbsarbeit, der Haushalt, die Erziehung der Kinder - da bleibt kaum Raum für Sex mit dem Partner oder der Partnerin. „Wer den ganzen Tag im Hamsterrad eingesperrt ist, wird sich abends wohl vor allem auf eines freuen - das Bett", sagt die Kremser Gynäkologin Doris Linsberger im Gespräch mit der lebensweise: „Allerdings nicht, um sich dort ausgefallenen Liebesspielen hinzugeben, sondern um zu schlafen."
Nach dem Kennenlernen beginnt die Arbeit
„Sexualität braucht Raum", hält auch Psychotherapeutin Moshammer-Peter fest. „Und im täglichen Alltag bleibt eben oft kein Raum dafür, wenn sich die Paare nicht aktiv darum kümmern." Erfüllte Sexualität stellt sich meist nur am Beginn einer Beziehung, während der ersten Verliebtheit, ein. Wenn diese Phase vorüber ist, beginnt die Arbeit - an der Beziehung und natürlich auch an der partnerschaftlichen Sexualität. Und hier liegt ein wesentlicher Knackpunkt: „Die meisten von uns haben nie gelernt, über Sexualität, unsere Bedürfnisse und Wünsche zu reden", sagt Brigitte Moshammer-Peter. Aller scheinbaren Aufgeklärtheit zum Trotz, sich mit der eigenen Sexualität offen auseinanderzusetzen, ist immer noch ein Tabu. Die Kommunikation über die eigenen sexuellen Wünsche mit dem Partner stellt zudem ein Risiko dar: „In einer solchen Situation mutet man sich dem Partner buchstäblich zu", formuliert Moshammer-Peter: „Und er oder sie muss dann reagieren, muss sagen: Ja, das finde ich gut, oder nein, ich will das leider nicht." Via Medien wird meist eine völlig unrealistische Sicht der Sexualität vermittelt. Das reicht von perfekten Körpern über ausgefallene Sexspielchen bis hin zu gemeinsamen, unendlich intensiven Orgasmen: „Bilder sind mächtig", weiß Linsberger: „Und wir sind täglich einer unglaublichen Menge von Bildern und Informationen ausgesetzt." Werden derartige Bilder unreflektiert ins eigene Leben übernommen, wird es schwierig für die partnerschaftliche Sexualität.
„Sex ist heute vergleichbar wie noch nie zuvor", zeigt sich auch Paartherapeutin Brigitte Moshammer-Peter überzeugt: „Denken Sie nur an Kinofilme mit den immer sehr ästhetisch und leidenschaftlich gefilmten Sexszenen - da mag sich schon die eine oder der andere fragen: Und was habe ich zu Hause?"
Um eine sexuelle Begegnung einzuleiten, braucht der Mensch zweierlei: Hirn und auslösenden Reiz. Das kann der Duft des geliebten Partners sein, ein Blick, eine Geste, sexuelle Fantasien - was immer Lust macht. Erreicht der Reiz das Gehirn, wird er dort in das Sexzentrum weitergeleitet. Das ist das limbische System, der älteste Teil des menschlichen Gehirns. Diese Region regelt Gefühle wie Angst und Erregung. Das Sexualzentrum befindet sich im Hypothalamus, das ist ein Teil des Zwischenhirns. Der Hypothalamus ist sehr klein - etwa so groß wie ein Fünfcentstück und wiegt rund 15 Gramm.
Das Sexualzentrum im Hypothalamus ist nur rund vier Gramm schwer, hat es aber gewaltig in sich: Sämtliche Hormone, die für Sexualität notwendig sind, werden von diesem Zentrum gesteuert. Wird dieses Lustzentrum von einem sexuellen Reiz erreicht, löst das Zentrum eine ganze Reihe von Befehlen aus, die zur Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin, Oxycotin, Testosteron, Östrogen, Progesteron, Prolaktin, Dopamin, Pheromonen und Serotonin führen.
Botenstoffe setzen Kaskade an Reaktionen frei
Kommt ein sexueller Reiz im Gehirn an, beginnt das Sexzentrum diese Botenstoffe (Hormone) auszuschütten. Das setzt im Körper eine ganze Kaskade von Ereignissen in Gang. So wird die Haut besser durchblutet, die Nervenenden werden besonders empfindlich, die Haut wird berührungsempfindlicher, im Becken nimmt die Blutmenge zu und das äußere Genitale (Klitoris, große und kleine Genitallippen, Scheideneingang, Penis, Skrotum, Hoden) schwillt an. All dies wird durch Botenstoffe in Gang gesetzt.
Dieses überaus empfindliche Gleichgewicht kann sehr leicht gestört werden. Stress, Partnerschaftsprobleme, aber auch Krankheiten und Medikamente führen daher nicht selten zu sexuellen Problemen. So wirken etwa viele Antidepressiva, also Medikamente, die zur Behandlung der Depression eingesetzt werden, lustdämpfend, da sie direkte Auswirkungen auf die Produktion und Verteilung der Hormone Serotonin und anderer Botenstoffe im Gehirn haben. Sexuelle Probleme in einer Partnerschaft lösen sich fast nie von allein. „Natürlich gibt es Zeiten, in denen die Lust auf Sex vermindert ist", sagt die Gynäkologin Doris Linsberger. Wenn die Kinder klein sind, beruflich große Belastungen zu bewältigen sind oder gerade ein Haus gebaut wird, steht die partnerschaftliche Sexualität meist nicht im Mittelpunkt des Interesses des Paares: „Wenn aber der Zustand über mehrere Monate andauert und - das ist ganz wichtig - von einem oder beiden der Partner als belastend erlebt wird, dann sollte sich das Paar Hilfe suchen", sagt Linsberger. Ein ausführliches Gespräch im Rahmen einer Sexualberatung kann da oft schon sehr hilfreich sein.
Sexualtherapie kann durchaus hilfreich sein
Liegen die Probleme tiefer, so hilft eine Sexualtherapie. Diese kann zwischen einem halben und einem Jahr dauern und erfordert die Bereitschaft des Paares, sich auf diese Art der Behandlung wirklich einzulassen. Eine Sexualtherapie kann etwa dann sinnvoll sein, wenn Erlebnisse in Kindheit und Jugend das sexuelle Erleben erschweren, wenn Lustlosigkeit oder Erektionsstörungen vorliegen oder die Partnerin Schmerzen beim Geschlechtsverkehr hat. „In der Sexualtherapie gehen wir der Frage auf den Grund, woran eine erfüllte Sexualität bei diesem bestimmten Paar scheitert", erklärt Paartherapeutin Brigitte Moshammer-Peter. „Es geht um die offene, respektvolle und liebevolle Kommunikation der sexuellen Wünsche und Fantasien." Es geht aber auch darum, so die Expertin, dass man die eigenen Grenzen erkennt und gemeinsam herausfindet, wie das Paar die geäußerten Wünsche und Träume im eigenen Schlafzimmer umsetzen kann.
Beim Sex darf alles und muss gar nicht sein
„Eines ist ganz wesentlich", sagt der Psychiater Michael Musalek: „Beim Sex darf alles und muss gar nichts sein." Um als Paar Sexualität erfüllend zu erleben, ist es sinnvoll, sich aus der medialen Bilder- und Informationsflut auszuklinken und gemeinsam zu erfahren, was gut tut und Spaß macht. „Und es ist völlig egal, ob das Paar einmal im Jahr oder dreimal täglich Sex hat - erlaubt ist, was beiden gefällt", so Musalek. Auch Brigitte Moshammer-Peter schließt sich dieser Meinung an: „Solange zwei oder mehr Erwachsene einvernehmlichen Sex haben, ist alles erlaubt, womit alle einverstanden sind."