Expertinnenrat
Sie sind glückliche Eltern, aber im Bett läuft nichts? Erfolgreich im Job, aber wegen der Karriere bleibt für Erotik keine Energie? Sie glauben, mit Ihrer Unlust allein zu sein, wird das Ideal vom perfektem Hochleistungssex auf Werbeflächen ständig serviert? Weit gefehlt: Alltagsstress fordert bei rund zwei Drittel aller Paare seinen Tribut. Allerdings kein Grund, zerwühlte Leintücher und heiße Dessous der Vergangenheit zuzuordnen. Wir haben Sexualpädagogin Barbara Balldini und die Paar- & Sexualtherapeutinnen Brigitte Moshammer und Sabine Fischer befragt, wie Kind und Karriere mit intimer Zweisamkeit kompatibel sind!
Redaktion: Petra Mühr
Die Antworten auf die brennendsten Fragen!
1. Sex löst Stress, aber Alltagsstress blockiert. Ist das nicht ein Widerspruch?
Moshammer: Jeder Mensch verarbeitet Stress anders. Für manche ist er das reinste Aphrodisiakum, für andere der absolute Lusttöter. Manche erhöhen dadurch ihren Selbstwert ("Ich hab ja so viel zu tun!") und auch ihre Lust. Andere, die beim Sex vorrangig die Wünsche des Partners erfüllen, erleben diesen bei Belastung als zusätzliche Last.
Balldini: Zu viel Stress ist hinderlich, um den Kopf frei zu haben für die schönste Sache der Welt. Wenn allerdings der Partner darauf Rücksicht nimmt und ohne "Gipfelsturmabsichten" etwa eine Massage anbietet, lässt sich frau schon gern verführen.
Fischer: Wenn man sich Stress wie eine Welle vorstellt: anspannen, loslassen, anspannen, loslassen, kann's durchaus klappen. Wenn der Stress allerdings zu hoch ist und Konflikte dazukommen, wird es schwierig.
2. Was tun, wenn ich merke, dass die Lust vergeht?
Balldini: Nachforschen, warum das so ist. Darüber reden. Aber bitte kein Drama machen. Geduld mit sich und dem Liebsten haben - vielleicht braucht er ja nur mal Zeit für sich oder mit seinen Kumpels! Oder Sie selbst wollen einfach eine Zeit lang absichtslose Berührung für mehr Zweisamkeit und Nähe, ohne Verkehr.
Moshammer: Bloß nicht verschweigen, sondern gemeinsam mit dem Partner die Ursachen ergründen, in achtsamer und respektvoller Form. Zuerst überlegen, ob es temporäre, äußere Umstände gibt, die die Lust zum Erliegen gebracht haben. Bei vorübergehender Unlust heißt es geduldig auf bessere Zeiten warten. Gibt es andere Gründe, kann professionelle Hilfe durchaus nützlich sein.
Fischer: Zuerst mal schauen, was mein Anteil daran ist, nicht gleich den Partner vor den Kopf stoßen. Gerade junge Mütter haben durch den engen Kontakt mit Kindern ihren Bedarf an Körperlichkeit gedeckt, auch wenn's eine andere Form von Nähe und Berührung ist.
3. Erfüllender Sex trotz Beruf und Familie - kann das funktionieren?
Balldini: Ja, wenn der Job Freude macht, die Kinder versorgt sind und frau sich nicht um derentwillen den Kopf zermartern muss. Es ist eine Frage von Zeitmanagement, Organisation, Prioritätensetzung.
Moshammer: Es braucht nur ein wenig Planung und den guten Willen der Partner.
Fischer: Man muss sich Zeitfenster schaffen und kinderfreie Zonen finden, zum Beispiel versperrbare Räume. Und von Anfang an ein Netzwerk an Freunden und Familie aufbauen, die auch mal das Babysitten übernehmen.
4. Sex nach Zeitplan - klingt ein wenig trocken und verkrampft?
Balldini: Es funktioniert! Tragen Sie sich einen Liebespaar-Abend bzw. ein -Wochenende in den Kalender ein, und unternehmen Sie als Paar etwas, das frisch Verliebte tun würden, wie Wellness, Sport oder Wandern. Und springen Sie auch mal über den eigenen Schatten, denn die Lust kommt mitunter erst beim Sex, nicht davor. Vorausgesetzt, die Basis stimmt.
Moshammer: Oberste Vertreterin dieser Theorie ist die deutsche Sexualwissenschaftlerin Ulrike Brandenburg, die meint, dass man keine Lust für Sex braucht, der "Appetit kommt mit dem Essen". Das ist sicher ein etwas radikaler Standpunkt, aber wenn wenig Gelegenheit für spontanen Sex vorhanden ist... Und bekanntlich ist die Vorfreude ja die schönste Freude.
Fischer: Die These klingt vielleicht theoretisch, ist aber grad mit Kindern eine gute Idee!
5. Kann ein Plan "Wann tun wir es?" die Beziehung langfristig betrachtet retten?
Moshammer: So formuliert eher nicht! Diese Frage wird oft als zu drängend erlebt, und an Erotik fehlt es ihr wohl auch. Gut funktionierende Beziehungen basieren meistens auf mehr Faktoren als nur Sex. Für zielführender halte ich, sich mehr auf die eigenen Verführungskünste zu verlassen.
Balldini: Kreativ bleiben. Sich ab und zu was Neues einfallen lassen. Auch an Tabus rantrauen und über Grenzen gehen. Vielleicht tun sich Welten auf, wer weiß! Sich zum Beispiel vom Büro aus "heiß" machen und sich spontan auf einen Quickie treffen!
6. Muss Sex in einer glücklichen Partnerschaft überhaupt sein?
Fischer: Man kann auch ohne gelebte Sexualität als Paar glücklich sein. Das ist sehr individuell und von den Partnern abhängig.
Moshammer: Wenn Einigkeit darüber herrscht, kann eine Beziehung viele Jahre ohne Sex auskommen. Schwierig wird es, wenn bei einem Partner der Wunsch danach (wieder) erwacht.
Balldini: Also fein wär's schon, nicht? Doch Sex verändert sich, das sollten wir wissen. Er kann mit den Jahren besser werden, ehrlicher, ruhiger, mutiger oder frecher. Grundvoraussetzung: daran arbeiten, in Bewegung bleiben.
7. Wird Sex vielleicht doch generell zu viel Bedeutung beigemessen?
Moshammer: Ganz sicher! Sex sells! Bei jeder Gelegenheit wird mit Sex geworben - und damit wird er selbst aufs Podest gehoben. Sexualität zu leben kann schön und angenehm sein. Wird sie aber zu einem Muss, kann es schnell anstrengend werden.
Balldini: Überall begegnet uns das Thema. Und wenn wir nicht so funktionieren, wie Medien und Pornoindustrie uns das vorgaukeln, dann leidet unser Selbstwert. Nix da! Es gibt Zeiten der Fülle und der Stille. Und wenn ich nur zwei Stellungen bevorzuge, ist das auch okay.
8. Sind wir also oversexed? Gehen Lust und Erotik etwa auch durch die allgegenwärtige Zurschaustellung verloren?
Moshammer: So ist das ein wenig vereinfacht. Ich kann der Idee des deutschen Sexualforschers Gunter Schmidt viel abgewinnen: Er meint, dass durch das Überangebot an Sexualität in Medien und Gesellschaft die persönlichen Möglichkeiten nicht erweitert, sondern eingeschränkt werden. Weil so die eigene Fantasie zum Erliegen kommt.
Balldini: Ja, das tut es. Wir leben im Zeitalter der Pornografie. Nur hat diese in der Realität so wenig mit Sex zu tun, wie der Tod eines Opfers im TV-Krimi echt ist. Zu viel Pornografie verändert jedenfalls nachweislich die Hirnstruktur und schafft Aggressionen.
Fischer: Man bekommt den Eindruck, dass ohnehin alles passt, Sex kein Tabuthema mehr ist und darüber genug geredet wird. Doch das stimmt nicht. Es wird eine andere Form von Sexualität gezeigt, ein Klischee. Das persönliche Liebesleben ist etwas sehr Intimes, Nahes. Und nach wie vor ein sehr sensibles Thema.
9. Welche Werte sind für eine Beziehung mit erfüllendem Sex wichtig?
Balldini: Jedes Paar sollte das für sich selbst herausfinden. Zum Beispiel zehn Werte wie Vertrauen, Lob, Achtung etc. aufschreiben, und jeder markiert die für sich wichtigsten vier. Letztendlich sollte man über Unterschiede und Gemeinsamkeiten sprechen und sich mit den Wertigkeiten des anderen auseinandersetzen.
Fischer: Respekt, Zuhören, Wertschätzung, Verständnis. Das heißt nicht, dass man alles akzeptieren muss, sondern dass man reden soll, bevor Missverständnisse aufkommen.
Moshammer: Das Wichtigste sind wohl die Fähigkeit zur Kommunikation, Offenheit und das Verständnis für den anderen.
10. Bitte drei konkrete Tipps, wie man sein Sexleben trotz Kind und Karriere wieder in Schwung bringt!
Moshammer: 1. Entfernen Sie alles aus dem Schlafzimmer, was nichts mit der (Liebes-)Paarbeziehung zu tun hat, besonders Gitterbetten, Schreibtische, Heiligenbilder. 2. Bewusst Liebeszeit für die Partnerschaft einplanen. 3. So simpel es klingt, aber eine Reihe von Studien hat ergeben, dass Sport die sexuelle Lust fördert.
Fischer: 1. Kinderfreie Zonen schaffen, versperrbare Türen genügen. 2. Kritik in Wünsche umwandeln: Statt "Du hast nie Zeit" lieber "Wär schön, wenn wir wieder mehr Zeit füreinander finden". 3. Achtzig-Prozent-Regel beachten: Stets hundertprozentig zufrieden sein zu wollen ist unrealistisch. Achtzig Prozent sind erreichbar.
Balldini: 1. Uns unserer Bedürfnisse bewusst werden, diese aussprechen und tun, statt zu jammern! 2. Gemeinsames Lachen stärkt das Immunsystem und setzt Glückshormone frei. Seien Sie also übermütig. 3. Neues ausprobieren: Sexspielzeug kaufen, im Chat als "Fremde" miteinander flirten oder ein Tantra-Seminar besuchen!